Stadtwächter Konrad

Es war der 4. März 1283, einer der ersten warmen Frühlingstage des Jahres. Am Nachmittag war die Vorfreude noch mit den Händen greifbar. Graf Rudolf I von Habsburg hielt in Luzern Hoftag. Er hatte zuvor angekündigt Aarau das Stadtrecht zu verleihen. Dem altgedienten Stadtwächter Konrad wurde die Aufgabe zu Teil, die Stadtrechtsurkunde schnell und sicher nach Aarau zu überbringen. Der Schultheiss hatte beschlossen, dass sie an diesem Tag erst als Städter wieder miteinander anstossen wollten. Die Wirte wurden deshalb strikte angewiesen, Bier erst auszuschenken, wenn der Stadtwächter mit dem Dokument das Obere Tor passiert hatte und Aarau damit eine Stadt war. Doch nun verzögerte sich die Ankunft des Stadtwächters bereits um Stunden und das Volk in den Tavernen dürstete. Die Luft, wie auch die Stimmung in Aaraus Gassen kühlte ab.

In Luzern hatte der Tag vielversprechend begonnen. Das Siegelwachs war noch warm, als Stadtwächter Konrad das für Aarau so wichtige Schriftstück einrollte und es in einem eigens dafür genähten Lederbeutel verstaute. Er stieg auf sein Pferd. Durch Luzerns Gassen zügelte er sein Pferd noch. Doch kaum hatte er das Stadttor passiert, gab er dem Pferd die Sporen und galoppierte davon. 

Hinter Sursee folgte er der Suhre. Der Pfad war hier eng, vom halbgeschmolzenen Schnee teilweise morastig und von Gestrüpp überwachsen. Stadtwächter Konrad kam deutlich langsamer voran. Pferd und Reiter waren ermüdet vom ständigen Stolpern, als plötzlich zwei ungepflegte Gestalten hinter einem Felsen hervorsprangen, bewaffnet mit Schwert und Speer. Konrad griff unmittelbar nach seinem Schwert, um sich dem Kampf mit dem Gesinde zu stellen. Doch er bemerkte im Augenwinkel eine dritte Wegelagerin, die Armbrust am Anschlag. «Absteigen!», hiess sie ihn. Einer der Räuber trat auf Konrad zu, entriss ihm den Lederbeutel und entrollte das wichtige Dokument. Da er des Lesens nicht mächtig war, fragte er den Stadtwächter, was denn das sei. Konrad runzelte die Stirn. «Eine Bescheinigung», sagte er zögerlich, und hatte plötzlich eine Idee. «Ein Bezugsrecht für 15 Schoppen Bier in einer Schenke zu Aarau», behauptete er kühn.» «15 Schoppen!», rief der Räuber und stiess seinen Kumpanen an. «Das ergibt für jeden von uns drei … genau … je drei Bier!» Der Stadtwächter verdrehte die Augen über die Rechnungskünste des Räubers und griff nach der Stadtrechtsurkunde. «Finger weg!  Nicht dein Bier. Los jetzt!»

Die Dunkelheit umhüllte die Stadt, als die drei Wegelagerer und der Stadtwächter das Obere Tor von Aarau passierten. Die Ankömmlinge hatten zu dieser Zeit und in dieser Kälte leere Gassen erwartet. Doch ganz Aarau war auf den Beinen. Kaum hatten die Menschen den Stadtwächter entdeckt, brach die Menge in frenetischen Jubel aus. 

Der Schultheiss trat aus der Menge auf den Stadtwächter zu und dieser meinte: «Die Dame mit der Armbrust und die beiden Herren waren so nett mich zu begleiten, um die Stadtrechtsurkunde von Wegelagerern zu beschützen. Sie bekommen dafür Bier.» Und zum Anführer der Räuberbande: «Geben Sie ihm die Rolle!» Er tat, wie ihm geheissen. Der Schultheiss nahm das Stadtrecht zu sich und fragte «Wie viel Bier?» «Drei Schoppen!» warf der Räuber sofort ein. «Pro Person!», ergänzte der zweite hastig. Konrad nickte: «Genau, exakt drei Schoppen».

Der Schultheiss erklärte Aarau feierlich zur Stadt und die Wirte liessen das Bier fliessen. Das Volk feierte die ganze Nacht durch und mittendrin Stadtwächter Konrad.

Zum Bier...